Vortrag über Geschichte und Zukunft der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe von Andreas Froese
20. Januar 2020 / Stadtarchiv Stendal
Andreas Froese vor den Grabkreuzen auf dem Außengeländer der Gedenkstätte. (gi)
Vortrag im Stendaler Stadtarchiv. (am)
Zur Eröffnung der Veranstaltungswoche „Denken ohne Geländer“ am 20. Januar 2020 gab es im Stendaler Stadtarchiv einen Vortrag des Leiters der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe, Andreas Froese. Er sprach unter dem Titel »Aufschrift ‚Unbekannt« über die Geschichte und aktuelle Planungen der Mahn- und Gedenkstätte. Sie wurde in den letzten Jahren zu einem Besucher- und Dokumentationszentrum umgebaut, das künftig mit Dauerausstellung, Seminarräumen, Veranstaltungen und Bildungsangeboten für Jugendliche und Erwachsene aufwartet. (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff eröffneten das neu errichtete Gedenkstättengebäude mit der Dauerausstellung zum Internationalen Tag der Demokratie am 15. September 2020 für das Besuchspublikum.)
In seinen Ausführungen stellte der Historiker Andreas Froese das Areal am Gardelegener Ortsrand als historischen Tatort und Begräbnisort vor. Isenschnibbe sei ein Beispiel dafür, dass die nationalsozialistischen Verbrechensorte nicht irgendwo weit weg waren – wie das KZ Auschwitz-Birkenau –, sondern auch ganz in der Nähe. Froese berichtete den Zuhörenden, zu denen auch Fünftklässler*innen des Osterburger Markgraf-Albrecht-Gymnasiums gehörten, von den Ereignissen im April 1945: von den Zügen, mit denen die KZ-Häftlinge aus den Lagern Mittelbau-Dora und Hannover-Stöcken in Mieste und Letzlingen ankamen, von den Todesmärschen nach Gardelegen und schließlich von der Nacht zum 14. April 1945, in der ein Massaker begangen wurde, das weltweit zum Synonym für NS-Verbrechen geworden ist.
In der Isenschnibber Feldscheune wurden in jener Nacht unter Beteiligung von Angehörigen der Wehrmacht, des Reichsarbeitsdienstes, des Volkssturms und weiterer NS-Organisationen 1016 KZ-Häftlinge grausam ermordet. Gerade einmal 308 Opfer des Massakers konnten bislang identifiziert werden. Ihre Namen stehen seit einigen Jahren in einem metallenen Totenbuch am Rande des Gräberfelds. Die übrigen Ermordeten wurden mit der Aufschrift »Unbekannt« auf dem Ehrenfriedhof beigesetzt. „Weitere Namen zu erforschen, ist unsere Daueraufgabe“, so Andreas Froese.
Er berichtete zudem von den weiteren geplanten Vorhaben in der Gedenkstätte: So wird es im großen Ausstellungsraum einen kleineren Kinosaal geben, in dem historische Aufnahmen der US-Armee gezeigt werden, die in den Tagen nach dem Massaker entstanden sind. Eine Besonderheit werden Graphic Novels sein, also gezeichnete Erzählungen, die das Tatgeschehen mangels Fotos und Filmen anhand überlieferter Quellen darstellen. »Gardelegen als Ausstellungsort probiert damit mal etwas Neues aus«, sagte Andreas Froese, der damit die Bedeutung der Gedenk- und Bildungsstätte Feldscheune Isenschnibbe für die zukünftige Bildungsarbeit in der Altmark wie auch Sachsen-Anhalt insgesamt unterstrich.
Studierende der Hochschule Magdeburg-Stendal hatten die Gedenkstätte Isenschnibbe besucht und präsentierten im Rahmen des Vortrages selbstgestaltete Poster mit einem Überblick über die Gedenkstätten Sachsen-Anhalts sowie mit Informationsangeboten. Die Gäste der Eröffnungsveranstaltung im vollbesetzten Lesesaal des Stendaler Stadtarchivs, darunter auch eine Schulklasse, nahmen sich nach dem Vortrag Zeit, um sich die Schautafeln anzusehen und miteinander ins Gespräch zu kommen.
Weitere Informationen zur Gedenkstätte:
Bericht von RIAS Berlin über Antisemitismus aus Betroffenenperspektive
20. Januar 2020 / Hochschule Magdeburg-Stendal
Alexander Rasumny während seines Vortrages in der Hochschule Magdeburg-Stendal. (am)
Für die Veranstaltung »Dieses sich Wohlfühlen ist ein zartes Gebilde« am 20. Januar in der Hochschule Magdeburg-Stendal war Alexander Rasumny von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) zu Gast. Er stellte Verfahren und Ergebnisse dieses zivilgesellschaftlichen Monitoringverfahrens vor.
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus liefert Informationen und Eindrücke über die Häufigkeit antisemitischer Vorfälle, deren Formen und politisch-gesellschaftliche Hintergründe. Die Bedeutung dieser zivilgesellschaftlichen Monitoringstelle ist gestiegen: Denn nicht zuletzt der terroristische Angriff auf die jüdische Gemeinde in Halle (Saale) im Oktober 2019 hat schockiert und einmal mehr gezeigt, dass Antisemitismus nach der Shoa in Deutschland nicht verschwunden ist. Das müssen Betroffene immer wieder schmerzlich erleben.
Viele Menschen fragen sich, wie Antisemitismus effektiver begegnet werden kann. Während Erfahrungen mit dem alltäglichen Antisemitismus in polizeilichen Statistiken nicht auftauchen (können), haben betroffene Personen und Zeug*innen antisemitischer Vorfälle zumindest in Berlin die Möglichkeit, sie bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zu melden. Sie gilt als ein Modell, das inzwischen auch in anderen Bundesländern Schule macht.
Nach dem Vortrag in der Stendaler Hochschule, der von Studierenden und Bürger*innen der Stadt besucht wurde, gab es noch eine Fragerunde.
Weitere Informationen zur Meldestelle:
Retrospektive 5 Jahre Studierenden-Projekte »Denken ohne Geländer«
21. Januar 2020 / Wunder.Bar, Kleine Markthalle
Studierende der Hochschule-Magdeburg Stendal initiierten 2015 die Veranstaltungswoche »Denken ohne Geländer«. Seitdem befassen sich in Stendal immer wieder Studierende mit jüdischen Leben, mit Antisemitismus und Holocaust. Sie teilen ihre Gedanken in unterschiedlichen Formen mit der Öffentlichkeit. Die Retrospektive zeigte mit einer durch Lesung, Kurzfilm und Präsentationen ergänzten Ausstellung (un)veröffentlichte studentische Projektarbeiten aus fünf Jahren »Denken ohne Geländer«.
Dazu berichtete die Journalistin Edda Gehrmann im Gespräch mit Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya und Projektkoordinatorin Aud Merkel von den zahlreichen und vielgestaltigen Arbeiten, die bisher entstanden. Drei Studierende lasen ihre Kurzgeschichten und Gedichte vor, und erzählten von ihren Erfahrungen während der Seminar-Arbeit.
Im Rahmen der Seminarreihe »Kinderleben« beschäftigen sich Studierende der Kindheitswissenschaften und Rehabilitationspsychologie unter der Leitung von Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya mit verschiedenen Kinderwelten. Schwerpunkte dabei sind auch jüdisches Leben, Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus aus verschiedenen Perspektiven. Durch das Heranziehen von dokumentarischem und künstlerischem Ausgangsmaterial werden die Studierenden zu eigener Recherche und eigenem »Denken ohne Geländer« motiviert.
Engagement gegen Antisemitismus / Demokratie- und Engagementförderung in Sachsen-Anhalt
22. Januar 2020 / Kleine Markthalle
Marcus Wolff von der Stabsstelle Demokratie- und Engagementförderung beim Gespräch in der Kleinen Markthall Stendal (am)
Um Präventionsmaßnahmen gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus ging es bei der Veranstaltung in der Kleinen Markthalle Stendal. Die kostenlose Informationsveranstaltung richtete sich an alle interessierten Bürger*innen sowie Initiativen, Vereine und Multiplikator*innen, die im Bereich Demokratiebildung tätig sind oder werden wollen. Zu Gast war Marcus Wolff von der Stabsstelle Demokratie- und Engagementförderung im Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration.
Vor dem Hintergrund des Anschlages von Halle wies Marcus Wolff auf die Aktualität und Dringlichkeit einer Stärkung von zivilgesellschaftlichem Engagement hin und sprach über Maßnahmen gegen Antisemitismus, die derzeit und zukünftig in Sachsen-Anhalt geplant sind.
Der Vortrag fand im Rahmen des »Landesprogramms für Demokratie, Vielfalt und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt« statt, das seit 2019 auch die Veranstaltungswoche »Denken ohne Geländer« unterstützt. Das Programm ist dem Leitgedanken verpflichtet, den gesellschaftlichen Zusammenhalt über vielfältige Angebote der Demokratieförderung, Prävention und Intervention zu intensivieren. Es möchte die bereits in Sachsen-Anhalt erfolgreich wirkenden Bundes- und Landesprogramme sowie die vor Ort entwickelten Ansätze, Strukturen und Angebote in einer gemeinsamen Strategie zusammenführen.
Diesbezüglich regte der Vortrag eine lebendige Diskussion über Förderkultur allgemein und die Situation kleinerer Initiativen und Vereine im ländlichen Raum an. Ein Aspekt der Meinungsäußerungen war: Für viele sei es schwer, mit immer wieder neuen Förderprogrammen, Themensetzungen und Antragstellungen eine kontinuierliche Demokratiearbeit vor Ort zu leisten. Die Beratungsarbeit der Stabsstelle Demokratie- und Engagementförderung in Magdeburg wurde dabei jedoch als hilfreich angesehen.
Weitere Informationen zum Landesprogramm:
Vortrag und Gespräch mit Arne Vogelgesang über rechte Mobilisierung im Netz
22. Januar 2020 / Hochschule Magdeburg-Stendal
Im Kellerraum des Stendaler Hochschul-Campus klärte Arne Vogelgesang über rechte Medienstrategien im Internet auf. (am)
Wie radikalisieren sich Menschen im Internet? Wie entsteht daraus ein reales Szenario der Bedrohung? Der Regisseur und Videokünstler Arne Vogelgesang stellte in seinem multimedialen Vortrag in der Hochschule Magdeburg-Stendal die jüngere Geschichte performativer rechter Medienstrategien im Internet dar.
Mittels Vlogs, Propaganda, Musik, dokumentarischem Material und einem wachsenden Chor von Avataren erzählte Arne Vogelgesang die noch junge Geschichte rechter Wortergreifung im Netz. In den Mischformen aus Video-Blog (Vlog) und politischer Rede am virtuellen Stammtisch spielten Köpfe und Gesichter die entscheidende Rolle, so seine Erkenntnis. Zudem zeigte Vogelgesang auf, in welchem Kontext sich diese neue Form politischer Subjektivierung entwickelte, welche Verhaltensweisen und Rollenmuster sie hervorbrachte und in welches strategische Kalkül sie sich einordneten lässt.
Im Anschluss an den sehr anschaulichen und gerade für junge Menschen gut verständlichen Dia-Vortrag wurden die dargestellten Phänomene und etliche Fragen aus dem Publikum diskutiert.
Mit seinem Programm »Auslöschung der Grauzone« hat Arne Vogelgesang schon in vielen Städten über die perfide Schwarz-Weiß-Malerei und Stimmungsmache der Rechtspopulisten und Rechtsextremisten aufgeklärt. Die Stendaler Veranstaltung wurde von Studierenden der Hochschule Magdeburg-Stendal, einer Schulgruppe des Markgraf-Albrecht-Gymnasiums Osterburg und interessierten Stadtbürger*innen besucht. Wolf E. Rahlfs, Intendant des Theaters der Altmark, hatte Vogelgesang nach Stendal eingeladen und begrüßte ihn zu Beginn der Veranstaltung.
Arne Vogelgesang, geboren in Berlin (Ost), ist Gründungsmitglied des Theaterlabels »internil« und experimentiert mit verschiedenen Zusammensetzungen von dokumentarischem Material, neuen Medien und Performance. Inhaltliche Schwerpunkte dabei sind politische Radikalisierung, deviante Praktiken, Digitalisierung des Menschlichen.
Filmvorführung und Nachgespräch mit Regisseurin und Studierenden
23. Januar 2020 / Uppstall-Kino Stendal
Das Plakat zum Film »Wir sind Juden aus Breslau«.
Anita Lasker-Wallfisch ist eine der Protagonistinnen des Films. Bei den Dreharbeiten zeigt sie deutsch-polnischen Teilnehmern eines Workshops den Gefängnishof Wroclaw. (Foto aus dem Film)
Regisseurin Karin Kaper kam mit den Filmgästen angeregt ins Gespräch. (am)
Der Kinodokumentarfilm »Wir sind Juden aus Breslau« ist ein Film von aktueller Brisanz, der ein eindringliches Zeichen setzt gegen stärker werdende nationalistische und antisemitische Strömungen in Europa. Am 23. Januar 2020 wurde er im Uppstall-Kino Stendal für Schulgruppen gezeigt. Der von Karin Kaper und Dirk Szuszies gedrehte Film zeigt, wohin eine katastrophale Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen führt, und setzt anhand der Lebensschicksale der Protagonisten auch die Gründung des Staates Israel mit den Erfahrungen des Holocaust in Verbindung.
Sie waren jung, blickten erwartungsfroh in die Zukunft, fühlten sich in Breslau, der Stadt mit der damals in Deutschland drittgrößten jüdischen Gemeinde, beheimatet. Dann kam Hitler an die Macht. Ab diesem Zeitpunkt verbindet diese Heranwachsenden das gemeinsame Schicksal der Verfolgung durch Nazi-Deutschland als Juden: Manche mussten fliehen oder ins Exil gehen, einige überlebten das Konzentrationslager Auschwitz. Der Heimat endgültig beraubt, entkamen sie in alle rettenden Himmelsrichtungen und bauten sich in den USA, England, Frankreich wie auch in Deutschland ein neues Leben auf. Nicht wenige haben bei der Gründung und dem Aufbau Israels wesentlich mitgewirkt.
14 Zeitzeugen stehen im Mittelpunkt des Films. Sie erinnern nicht nur an vergangene jüdische Lebenswelten in Breslau. Ihre späteren Erfahrungen veranschaulichen eindrücklich ein facettenreiches Generationenporträt. Einige von ihnen nehmen sogar den Weg in die frühere Heimat auf sich, reisen ins heutige Wrocław, wo sie einer deutsch-polnischen Jugendgruppe begegnen. Gerade in Zeiten des zunehmenden Antisemitismus schlägt der Film eine emotionale Brücke von der Vergangenheit in eine von uns allen verantwortlich zu gestaltende Zukunft.
Der Film wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert und erhielt 2017 den Deutsch-Polnischen Kulturpreis Schlesien, die Ehrenmedaille der Europäischen Kulturhauptstadt Wroclaw und wurde weltweit auf bedeutende Filmfestivals eingeladen.
In Stendal wurde er in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt sowie dem Netzwerk für die Integration von Migrant*innen im Landkreis Stendal gezeigt.
Regisseurin Karin Kaper war vor Ort. Sie und Studierende der Hochschule Magdeburg-Stendal führten in den Film ein und begaben sich nach der gut eineinhalbstündigen Vorführung im vollen Uppstall-Kino in angeregte Nachgespräche mit den Schulgruppen und Einzelbesucher*innen.
Mehr zum Film:
Gespräch über die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der DDR im Rahmen der »Zeit.Zeugen«-Veranstaltung
23. Januar 2020 / Theater der Altmark, Kaisersaal
Podiumsgespräch im TdA mit (von links): Jens Schößler, Andreas Froese und Anja Thiele, moderiert von TdA-Dramaturg Tristan Benzmüller und durch Buchpassagen angereichert von Schauspielerin Claudia Tost. (vb)
Um die Erinnerungskultur in der DDR bezüglich der NS-Verbrechen ging es bei einer gut besuchten Podiumsdiskussion im Theater der Altmark. Grundlage des Gesprächs zwischen der Literaturwissenschaftlerin Anja Thiele, dem Stendaler Geschichtslehrer Jens Schößler und dem Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe, Andreas Froese, war die Tatsache, dass Antifaschismus in der DDR Staatsdoktrin war und die Legitimation des SED-Staates auf dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus fußte. Die Frage nach der Schuld am Holocaust hätte dabei nicht an zentraler Stelle gestanden, sondern sei vielmehr auf die Bundesrepublik abgewälzt worden.
Schwerpunkt des Gespräches, das von TdA-Dramaturg Tristan Benzmüller moderiert wurde, war der sogenannte Buchenwald-Mythos. Demnach sei antifaschistischen Widerstandskämpfern im KZ Buchenwald die Selbstbefreiung gelungen. Diese Geschichte, dramatisch angereichert mit der Befreiung eines kleinen Jungen, erzählt wiederum der Roman »Nackt unter Wölfen« von Bruno Apitz, der in der DDR Pflichtlektüre war. Daran erinnerte sich auch Jens Schößler, Geschichtslehrer am Stendaler Berufsschulzentrum, der über den Unterricht in der DDR sagte: »Vieles wurde nicht hinterfragt.« Der Antifaschismus sei das zentrale Thema im Geschichtsunterricht gewesen. Und dazu gehörte auch ein Pflichtbesuch im KZ Buchenwald. Vom Begriff des Buchenwald-Mythos habe er selbst beispielsweise erst nach der politischen Wende erfahren.
»Das Buch wurde nicht wie ein Roman, sondern wie ein Tatsachenbericht gelesen«, erklärte die Literaturwissenschaftlerin Anja Thiele, die 2020 über die Repräsentation der Shoah in der Literatur der DDR promovierte und sich am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Jena schwerpunktmäßig mit der deutschen Erinnerungskultur und aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus beschäftigt. Buchenwald habe sich als »Heldengeschichte« angeboten, da es dort viele politische Häftlinge gegeben hatte, wird Thiele in der Berichterstattung der »Stendaler Volksstimme« vom 25. Januar 2020 zitiert. Der Autor Bruno Apitz, der selbst acht Jahre im KZ Buchenwald inhaftiert gewesen war, habe die Geschichte sehr geschönt und idealisiert.
Von solcherlei Verfälschungen und Umdeutungen wusste im Laufe des Abends auch Andreas Froese, Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen, zu erzählen. So sei in Isenschnibbe 1965 eine Tafel entfernt worden, auf die die US-Amerikaner 1945 geschrieben hatten, dass der Friedhof mit den über 1000 bei einem Massaker getöteten Menschen auf Anweisung der Amerikaner angelegt worden sei und künftig von der Bevölkerung zu pflegen sei. In die politische Doktrin des SED-Staates passte der Hinweis auf die Amerikaner nicht. »Das antifaschistische Wunschbild zog sich durch die Literatur und auch die Gedenkstätten«, so Froese.
Froese berichtete zudem von der Schwierigkeit, Erinnerungskultur an definitiven Eckpunkten festzumachen. So lasse sich nicht einmal eindeutig datieren, wann Isenschnibbe zur Gedenkstätte wurde. Fest stehe, dass am 25. April 1945 der Friedhof angelegt wurde und es ab 1946 jährliche Erinnerungstage gegeben habe. Seit den 1950er Jahren wurde die Anlage immer wieder erweitert und umgestaltet.
Wie in der Berichterstattung der »Stendaler Volksstimme« abschließend zu lesen war, sei das Spektrum des Podiumsgesprächs sehr breit gefasst worden: »Jeder der Podiumsgäste hätte mit seinem Fachgebiet den Abend der ›Zeitzeugenreihe‹ bestreiten können. Und auch aus dem Publikum im gut gefüllten Kaisersaal kamen interessante Einwürfe.« Gerade die Fragen der Veranstaltungsgäste hätten gezeigt, welche weiteren Facetten das Thema biete – nicht zuletzt wurde das Gespräch von Schauspielerin Claudia Tost angereichert durch gelesene Passagen aus dem Buch »Umkämpfte Zone« von Ines Geipel.
Ministerpräsident Reiner Haseloff besucht »Denken ohne Geländer« Veranstalter
24. Januar 2020 / Kaisersaal
Ministerpräsident Reiner Haseloff mit den Gesprächspartner*innen im Kaisersaal. (mb)
Ministerpräsident Reiner Haseloff traf sich im Kaisersaal des Theaters der Altmark mit den Veranstaltern der Themenwoche »Denken ohne Geländer«. An dieser Runde nahmen TdA-Intendant Wolf E. Rahlfs, Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya von der Hochschule Magdeburg-Stendal und Maik Reichel, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt, sowie Oberbürgermeister Klaus Schmotz und Landtagsabgeordneter Hardy-Peter Güssau teil.
Die Veranstalter präsentierten ihre Arbeit und hoben die Bedeutung für die Stärkung der Demokratie in der Altmark-Region hervor. Aus dem Gespräch nahm der Ministerpräsident viele Impulse und Gedanken mit: zur Rolle von Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft und zum Wirken von Theater in diesem Zusammenhang, zur Bedeutung der Veranstaltungswoche für Sachsen-Anhalt sowie zu Fragen der künftigen Finanzierung. Abschließend wurde ihm eine Präsentationsmappe über die Arbeit der bisherigen Veranstaltungsprogramme zu »Denken ohne Geländer« überreicht.
Von Seiten des Landes Sachsen-Anhalt wurde Reiner Haseloff anlässlich seines Besuches bei der Veranstaltungswoche »Denken ohne Geländer« in Stendal wie folgt zitiert: »Wir dürfen nicht blind in die Zukunft gehen. So wird aus dem Erinnern ein konkreter Auftrag. Daher sind Veranstaltungen wie diese so eminent wichtig.«
Textcollage und Kreativangebot von Studierenden für Schüler*innen der 9. Klasse
24. Januar 2020 / Hochschule Magdeburg-Stendal
Studierende schlüpfen für Schulklassen in verschiedene Täter-Opfer-Rollen. (am)
Sieben Studierende der Hochschule Magdeburg-Stendal erarbeiteten im Seminar »Kinderleben« aus authentischem Zeitzeugenmaterial kleine selbstbeschreibende biografische bis anekdotische Erzählungen. Dabei schlüpften sie in die Rollen von Kindern jüdischer oder nationalsozialistischer Eltern aus verschiedenen Zeiten, erzählten aus Opfer- und aus Täterperspektive und provozierten mit inhumanen Meinungen, z.B. heutiger Neo-Nazis. Alle Biografien speisten sie aus authentischem Quellenmaterial. Das Rollenspiel führten sie in einer Kinderuni Schülern vor, mit denen sie darüber diskutierten. Die Studierenden waren erstaunt, welch intensivere Wirkung ein Text haben kann, wenn er theatral vorgetragen wird.
Die Rollen, in die sie sich die Studierenden versetzten, waren: Willy Blum, der in einer fahrenden Schaustellerfamilie aufwuchs und mit 16 Jahren ermordet wurde, die Sängerin Esther Bejarano, die Auschwitz überlebte, Gudrun Burwitz, die Tochter von Heinrich Himmler, Niklas Frank, Sohn des für polnische Konzentrationslager verantwortlichen, ranghohen Nazionalsozialisten Hans Frank, Claus-Günther, Hitlerjunge, der sich von seinem Nazi-Vater distanziert hat, Lydia Samo, Flüchtlingskind au Aleppo, und Neonazi Martin.
Digitaler Jugendworkshop ab 12 Jahren
Freitag 24. Januar 2020, 15 Uhr / Treffpunkt: Kleine Markthalle
25. Januar 2020 / Stadtteilbüro Stadtsee
Ministerpräsident Reiner Haseloff besuchte den Jugendworkshop in der Kleinen Markthalle. (am)
Wo wohnten die jüdischen Mitbürger*innen in Stendal, wie hießen sie, welche Berufe übten sie aus, was sind ihre Lebensdaten? Und was alles lässt sich noch über sie herausfinden? Diesen Fragen gingen zahlreiche Kinder und Jugendliche beim digitalen Jugendworkshop »Jüdisches Leben in Stendal« nach, der sie mit Hilfe von Dokumenten und einer speziellen App auf eine Erkundungstour durch die Altstadt führte. Dazu eingeladen hatte der Landesverband der sozialistischen Kinder- und Jugendorganisation »Die Falken« unter Leitung von Jacob Beuchel (SPD), der selbst dort aktiv ist.
Beuchel erklärte den teilnehmenden Kindern zu Beginn, wie die Stadtrallye funktioniert und wie ihnen dabei sowohl Dokumente aus dem Stendaler Stadtarchiv wie auch die App Actionbound helfen, die jüdische Geschichte Stendals zu erforschen. Anschließend begaben sich die Teilnehmenden in kleinen Gruppen auf die digitale Erkundungstour, die sie zu elf Stationen von der Grabenstraße bis zum städtischem Friedhof führte, wo sich der Jüdische Friedhof befindet. Teil der Rallye waren selbstverständlich auch die in der Stendaler Altstadt verlegten Stolpersteine. Ganz nebenbei hatten die Kinder die Möglichkeit, Verbesserungsmöglichkeiten der genutzten App zu benennen.
Besonderen Besuch hatte es zum Auftakt des Workshops gegeben: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) war zu Gast und lobte das Engagement sowie das Interesse der Jugendlichen an der digitalen Stadtrallye. Darüber hinaus berichtete er vom Synagogenbau in der Landeshauptstadt Magdeburg.
Gesprächs-Workshop mit Anja Thiele und Studierenden
24. Januar 2020 / Hochschule Magdeburg-Stendal
Anja Thiele (2.v.l.) diskutiert mit Studierenden und Stendaler Bürger*innen und Osterburger Schüler*innen. (am)
Wolfgang Schneiß, Ministerpräsident Reiner Haseloff und Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya besuchten den Workshop.
Studierende der Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal hatten über ein Semester lang Fragen gesammelt, die sie persönlich beschäftigten: Wie konnte Hitler die Massen für sich gewinnen? Wie funktionieren Manipulationen heute? Was macht die Faszination von Nationalismus damals und heute aus? Machen wir die gleichen Fehler wie damals noch einmal? Welche Rolle spielten rhetorische Setzungen? Was wird davon heute übernommen? Warum funktioniert Rassismus als Mobilisierung? Wie kommt es zu Gehorsam und Konformität?
Die Studierenden wollten Manipulationen durch Nationalsozialisten vor und während des 2. Weltkrieges ergründen und mit Manipulationen rechtsextremer Kräfte heute vergleichen. Ihre Fragestellungen veränderten sich im Verlauf und sie organisierten einen Workshop, der sich grundsätzlich mit Antisemitismus damals und heute beschäftigten sollte. Dazu diskutierten sie mit Anja Thiele, wissenschaftliche Referentin am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft der Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit in Jena, über die aktuelle Bedeutung geschichtsrevisionistischer Positionen sowie deren Ursachen, Erscheinungsformen und Wirkungsweisen.
Zum Workshop waren auch Stadtgäste und Schüler*innen des Osterburger Markgraf-Albrecht-Gymnasiums gekommen. Ministerpräsident Reiner Haseloff, der zuvor mit der Hochschulleitung über die (über)regionale Bedeutung und Beiträge der Hochschule zum gesellschaftlichen Diskurs sprach, besuchte mit Wolfgang Scheiß, dem Landesbeauftragten für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, und Prof. Katrin Reimer-Gordinskaya den Gesprächsworkshop.
Folk- und Weltmusik mit Magdeburger Band
24. Januar 2020 / Kaisersaal, Theater der Altmark
Eine volle Kulturkantine, junge und alte Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern, ausgelassene und freundschaftliche Stimmung – so erlebten die Gäste den Konzertabend mit Foyal & Friends. Es war ein außergewöhnliches Bandtreffen im Rahmen von »Denken ohne Geländer«, bei dem sich verschiedene Stile und Traditionen zu einem musikalischen Gedanken verbanden.
Die Musiker*innen der Magdeburger Band Foyal verstehen und leben Musik als Weltsprache. Zu dem Abend in Stendal hatten sie musikalische Freunde eingeladen. Wie es dazu kam, erzählte Bandmitglied Christian Luther, der das Konzert initiiert hatte: »Es kann sein, dass man im Haus von einem Nachbarn angesprochen wird. Ja, so etwas gibt es selbst heute noch.« Und aus einer solchen Begegnung sei nicht nur eine Freundschaft entstanden, sondern ein musikalisches Projekt mit dem Namen »Jiran – Nachbarn«. Einer dieser Nachbarn ist der aus Aleppo stammende Syrer Mohamed Kajjan, der seit seinem siebten Lebensjahr »eines der schönsten Musikinstrumente der Welt“ spielt: die Oud (auch Ud), eine Kurzhalslaute. Und er spielt sie meisterhaft. Bald kam Rami Aldamen aus Damaskus, ebenfalls ein Hausmitbewohner, hinzu. „Von ihm habe ich viel über die Kultur und Alltäglichkeiten Syriens erfahren«, sagte Christian Luther. Vor allem über das Geschichtenerzählen. »Seit langer Zeit beschäftige ich mich mit arabischer Musik. Es ist ein Geschenk, die beiden kennenlernen zu dürfen und mit ihnen zu musizieren.«
Der Konzertabend in Stendal wurde so zu einem Fest der Weltmusik, die ohne Worte Menschen verbinden kann. Besonderen Anteil daran hatte Foyal-Frontsängerin Ulrike Baumbach, die als Opernsängerin am Theater Magdeburg arbeitet. Sie arrangiert und komponiert die Titel und hat sich inzwischen zum musikalischen Kopf der Band entwickelt. Und bei Foyal singt sie nicht nur, sondern spielt auch die Quintone, ein fünfsaitiges Streichinstrument.
Die Magdeburger Band Foyal hat sich zuerst eher traditionellem Klezmer, Musik des Balkan und der Roma verschrieben, bevor sie sich später auch bretonischem und irischem Folk widmete. Sie geht dabei eigene musikalische Wege mit dem Ziel, authentisch zu bleiben.
Vortrag von Dr. Raffi Kantian und Lesung mit TdA-Schauspieler*innen
aus Franz Werfels Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«
25. Januar 2020 / Cordatussaal im Dom St. Nikolaus
Mit einem Vortrag von Dr. Raffi Kantian und einer Lesung aus Franz Werfels Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« wurde im Cordatussaal des Stendaler Doms des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges gedacht. Als Reaktion auf eine Erklärung der Entente-Mächte vom 24. Mai 1915, in der der »Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier« als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, erließ die türkische Regierung ein Deportationsgesetz. Ziel war die Enteignung und gänzliche Ausrottung aller Armenier*innen – ein Völkermord.
Dr. Raffi Kantian, Vorsitzender der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, sprach vor einem sehr interessierten Publikum über diese Ereignisse und den schwierigen Weg der Anerkennung der Verbrechen. Sein Vortrag leitete zu Franz Werfels Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh« hin, der 1932 entstand und den armenischen Widerstand auf dem Berg Musa Dagh literarisch verarbeitet. Er erzählt vom Mut und der Ohnmacht derer, die den Völkermord verhindern wollten. Als er 1933 erschien, wurde er sofort von den Nationalsozialisten verboten.
Pfarrer Johann Lepsius ist die Hauptfigur der Roman-Auszüge, die bei der Stendaler Veranstaltung von Katrin Berg und Andreas Schulz vom Theater der Altmark gelesen wurden. Dazu hatte Dramaturgin Aud Merkel aus dem Roman eine Textcollage zusammengestellt, die von Regisseurin Cordula Jung als lebendige Schauspielerlesung erarbeitet wurde. Johann Lepsius (1858-1926) kämpfte auf diplomatischem Wege gegen den Völkermord an den Armeniern und gründete 1914 die Deutsch-Armenische Gesellschaft in Berlin, deren Vorsitzender heute Dr. Raffi Kantian ist. In den gelesenen Passagen wurden das damalige Wegsehen anderer Staatsmächte, darunter auch Deutschland, und Parallelen zu heutigen internationalen Abhängigkeiten bei territorialen und wirtschaftsstrategischen Verteilungskämpfen sichtbar.
Kinderbuchlesung für Kinder ab 9 Jahren
26. Januar 2020 und 27. Januar 2020 / Theater der Altmark, Kaisersaal
Anke Bär las im Kaisersaal aus ihrem Kinderbuch »Kirschendiebe oder als der Krieg vorbei war« (mb).
In der Lesereihe »Wenn die Welt plötzlich anders wird« las die Autorin Anke Bär im Kaisersaal des TdA zu Gast aus ihrem Kinderbuch „Kirschendiebe oder als der Krieg vorbei war“. Sie folgte der Einladung von Prof. Claudia Dreke, die in einem Studienprojekt an der Hochschule Magdeburg-Stendal anhand von Kinderbüchern, verschiedene Kindheiten untersucht.
»Es ist das größte Glück der Welt, dass wir hier gelandet sind. Auch wenn es das größte Unglück der Welt ist, das uns hergebracht hat.« Das sagt Lotte – sie ist elf Jahre alt und wohnt in einem Forsthaus, obwohl ihr Papa gar kein Förster ist. Grund dafür ist der Krieg, der ihrem Vetter Knut den Vater genommen hat und Lehrer Fettig ein Auge. Und seit die grässliche Frau Greßmann im Forsthaus das Sagen hat, ist vieles verboten – Kirschenpflücken zum Beispiel. Doch Lotte lässt sich nicht unterkriegen: Wer Kirschen haben will, muss sie eben klauen. Und dass nur Jungs Lederhosen tragen dürfen, sieht sie schon gar nicht ein!
Kindgerecht erzählt Anke Bär in ihrem Buch über die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, über Fragen der Kinder, die Schwierigkeiten der Erwachsenen, sich zu erinnern, und über die Ohnmacht im Dialog der Generationen. Im Anschluss an die Lesung konnten die Zuhörer*innen Fragen stellen und mit der Autorin ins Gespräch kommen. Bei der Lesung für Schulen verfolgten 24 Kinder aufmerksam die Lesung und stellten Bezüge zu ihren eigenen Großeltern her.
Die von Theater und Hochschule gemeinsam veranstaltete Reihe »Wenn die Welt plötzlich anders wird« stellt Kinder- und Jugendbücher in den Fokus, die sich mit der Rolle von Kindern und aktuellen oder vergangenen gesellschaftlichen Umbrüchen beschäftigen. In die Forschungsarbeit anhand der Kinderbücher sind auch Studierende der Kindheitswissenschaften mit eingebunden.
Kammerkonzert und Lesung mit dem Ensemble Opus 45 und Schauspieler Roman Knižka
27. Januar 2020 / Musikforum Katharinenkirche
Eindrucksvoll und ergreifend wurde das Programm »Den Nazis eine schallende Ohrfeige versetzen« im Musikforum Katharinenkirche aufgenommen. Martin Hanusch von der Landeszentrale für politische Bildung begrüßte die fast 200 Gäste und präsentierte die Veranstaltung im Rahmen von »Denken ohne Geländer« anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz direkt am Holocaust-Gedenktag.
Spätestens als Schauspieler Roman Knižka Flugblätter in die Höhe des Saales warf und einige Zuhörer*innen intuitiv danach griffen, konnte sich keiner mehr der Kraft der Worte und der Musik entziehen. Mit dieser wirkungsvollen Szene waren die Gäste mitten in der Intension des Abends, sollten die Flugblätter doch einerseits auf den Widerstand vieler Autor*innen gegen den Nationalsozialismus und andererseits auf Komponist*innen sogenannter entarteter Musik hinweisen. Einige ihrer Werke standen an diesem Abend im Mittelpunkt und wurden vom Bläserensemble Opus 45 aus Berlin aufgeführt.
Es sind große und großartige, teils jedoch lange Zeit vergessene Werke für Bläserquintett. Sie stammen von Komponisten, die zu Opfern der nationalsozialistischen Diktatur und des Holocausts wurden, deren »Wille, Kunst zu schaffen, aber stets ebenso stark gewesen ist wie unser Wille zu überleben«. So fasste es Pavel Haas zusammen, der hochbegabte tschechisch-jüdische Komponist, interniert im KZ Theresienstadt, später in Auschwitz ermordet. Neben seinem Bläserquintett op. 10 erklang die »Kleine Kammermusik« des als »entartet« diffamierten Komponisten Paul Hindemith sowie die »Sechs Bagatellen« von György Ligeti, der die Hälfte seiner Familie in deutschen Konzentrationslagern verlor.
Die Musik erweiterte die von Roman Knižka rezitierten Texte. Das titelgebende Zitat »Den Nazis eine schallende Ohrfeige versetzen« geht auf den Pazifisten und Widerstandskämpfer Konrad Reisner zurück, der gemeinsam mit Willy Brandt eine zunächst ausweglos erscheinende Kampagne initiierte: Sie setzten alles daran, für Carl von Ossietzky die Verleihung des Friedensnobelpreises zu erwirken, um so den inhaftierten Journalisten und Herausgeber der Zeitschrift »Die Weltbühne« aus dem KZ Papenburg-Esterwegen zu befreien. Eine berührende Geschichte und eines von vielen mutigen Zeugnissen des Widerstands gegen das NS-Regime.
Roman Knižka las unter anderem Paul Celans »Todesfuge« sowie Gedichte französischer Häftlinge des KZ Buchenwald. Bertolt Brechts satirischem „Lied vom Anstreicher Hitler“ stand Oskar Maria Grafs mutiger Aufruf »Verbrennt mich!« gegenüber, Kurt Tucholskys bitterböser »Ode an Das Dritte Reich« die ironisch-melancholischen Exil-Gedichte der jüdischen Schriftstellerin Mascha Kaléko. Die Rezitationsweise von Roman Knižka zeichnete sich durch Expressivität und Vitalität aus und begeisterte ebenso wie das eindrucksvolle Spiel der Musiker*innen das still und aufmerksam lauschende Publikum.
Für die Aufführung gab es am Ende tosenden Applaus. Roman Knižka richtete noch einige sehr persönliche Worte über den demokratischen Zusammenhalt an die Gäste im Musikforum nach diesem vertieft-nachdenklichen Abend.
Ringvorlesung über Nachkommen des Widerstandes und Opfer der NS-Verfolgung
28. Januar 2020 / Hochschule Magdeburg-Stendal, Audimax
Hans Coppi bei der Ringvorlesung im Stendaler Audimax, am Tisch Prof. Michael Klundt, Nele Harder und Ulrich Sander.
Um Erfahrungen der Nachkommen von Verfolgten des Naziregimes sowie Erfahrungen des Exils und des Widerstands ging es bei der Ringvorlesung am Stendaler Standort der Hochschule Magdeburg-Stendal. Politikwissenschafter Prof. Michael Klundt hatte dazu Studierende und Stendaler Stadtgäste eingeladen. Referent*innen waren Ulrich Sander, Journalist und Mit-Initiator der Gruppe »Kinder des Widerstands«, Hans Coppi und Nele Harder von der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA).
Ulrich Sander war von 1993 bis 2005 ehrenamtlicher Landesgeschäftsführer der VVN-BdA von Nordrhein-Westphalen und von 2005 bis 2020 Bundesvorsitzender. Er engagiert sich bei »Kinder des Widerstandes«, denen es um ein Bekenntnis zum Widerstand der Eltern und Großeltern geht, auch wenn diese damit den Kindern oft etwas antaten, mit dem sie schwer klarkamen. Die heute ergrauten Kinder – Jahrgang 1930 bis 1960 – haben unter den Kalten-Kriegs-Diskriminierungen gelitten. Manchen ihrer Eltern wurde von Richtern aus der NS-Vorzeit vorgeworfen, nichts aus den »Vorstrafen« in den Jahren 1933 bis 1945 gelernt zu haben. Nicht wenige wurden als Kommunisten unter Adenauer wieder eingesperrt. Ihre Eltern erhielten bisweilen keine Entschädigungen für gesundheitliche Einbußen – weil sie ja freiwillig Widerstand geleistet hatten.
Die »Kinder des Widerstands« wollen mit ihren Lebens- und Familiengeschichten die Menschen von heute zu einer widerständigen Haltung gegen Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevision, gegen Ignoranz, Menschenverachtung und Kriegstreiberei anregen. Als Nachkommen der NS-Verfolgten, des Widerstands und des Exils setzen sie sich für eine Welt des Friedens, der Freiheit und der Solidarität ein.
Hans Coppi, Sohn der Widerstandskämpfer Hans und Hilde Coppi von der Roten Kapelle, kam am 27. November 1942 im Berliner Frauengefängnis Barnimsstraße zur Welt. Am 22. Dezember 1942 wurde sein Vater und 5. August 1943 seine Mutter hingerichtet. Er sprach in Stendal über seine Kindheit und die Schwierigkeiten, nach Kriegsende als Opfer des Nationalsozialismus Anerkennung zu finden. Viele Jahre lang wurden er und andere angefeindet. Der VVN, dessen Ehrenvorsitzender er heute für den Berliner VVN-BdA ist, sei im Kalten Krieg zwischen die Fronten geraten und zunehmend politisiert und damit den Opfern nicht mehr gerecht geworden. In der DDR wurde eine flächendeckend organisierte, aber auch stark ritualisierte Erinnerungskultur etabliert. Jüdische Mitglieder wurden verdächtigt mit zionistischen Organisationen in Verbindung zu stehen. Im Westen wurden Gedenkveranstaltungen verboten, Mitglieder des VVN erhielten Berufsverbot im öffentlichen Dienst. Seit der Wiedervereinigung Deutschland stünden die Anerkennung, die Opferentschädigung und das würdige Gedenken an alle Opfergruppen im Vordergrund der Vereinigung.
Mit Nele Harder konnte eine sehr junge Nachfahrin über transgeneratives Engagement und Verantwortung sprechen. Das kam bei den Stendaler Studierenden authentisch und positiv an.
Anlass der Ringvorlesung war die seit 30 Jahren bestehende UN-Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die seit 1989 von 196 Staaten ratifiziert worden ist – so vielen wie sonst kein anderer völkerrechtlicher Vertrag. In der Stendaler Vortragsreihe wurden die zentralen Grundlagen der UN-Kinderrechtskonvention vorgestellt und ein Überblick über die bisherige Umsetzung in Deutschland und anderen Staaten gegeben.
Im Rahmen der Ringvorlesung gab es am 4. Februar 2020 noch einen Vortrag über den jüdischen Reformpädagogen und Kinderarzt Janusz Korczak.
Informationsveranstaltung der Initiative »Herz statt Hetze«
28. Januar 2020 / Kleine Markthalle
Jacob Beuchel gab eine thematische Einführung bei der Veranstaltung »Fake News – Nicht mit mir!«. (eg)
Falschmeldungen über Migrant*innen schüren im Netz Ängste und Rassismus. Was sind die wahren Hintergründe und wie gehen wir mit Fake News um? Das war das Thema der Veranstaltung »Fake News – Nicht mit mir!« in der Kleinen Markthalle. Dazu eingeladen hatte die Stendaler Initiative »Herz statt Hetze«. Bei der Informationsveranstaltung wurden lokale und überregionale Beispiele für bewusst gefälschte Nachrichten aufgezeigt und widerlegt. Im Fokus standen dabei auch Social-Media-Kanäle. Jacob Beuchel vom SPD-Ortsverein übernahm die thematische Einführung. Er hatte Beispiele von Falschmeldungen gesammelt und den Stendaler Journalisten Donald Lyko eingeladen, der über den Umgang mit Meldungen und professionellen Verifizierungsstrategien sprach.
Schüler*innen berichten über ihre Gedenkstättenfahrt nach Treblinka
28. Januar 2020 / Adolf-Diesterweg-Sekundarschule Stendal
Schüler*innen der Diesterweg-Sekundarschule Stendal bei ihrer Präsentation und in der Gedenkstätte in Treblinka (am, Diesterwegschule)
Altmärkische Sekundarschüler*innen und Gymnasiast*innen luden in Stendal dazu ein, ihre Gedanken und Eindrücke von der Gedenkstättenfahrt in das ehemalige Vernichtungslager Treblinka zu teilen. Die Zahl der im Vernichtungslager Treblinka von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen wird heute auf eine Million geschätzt. Heute besuchen jährlich etwa 60.000 Menschen den Gedenkort. Eine Delegation von 28 Schüler*innen und Pädagog*innen der vier Titelschulen »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« des Landkreises Stendal (Adolf-Diesterweg-Sekundarschule Stendal, Geschwister-Scholl-Sekundarschule Goldbeck, Markgraf-Albrecht-Gymnasium Osterburg, Diesterweg-Gymnasium Tangermünde) hatte im Oktober 2019 das ehemalige Vernichtungslager Treblinka in Polen besucht. In der Diesterweg-Sekundarschule in Stendal berichteten sie von dieser fünftägigen Exkursion.
Die Stendaler Schüler*innen eröffneten ihre Präsentation mit einem Gedichtvortrag unter dem Titel »Fahrt nach Treblinka«, bevor sie das ehemalige Vernichtungslager Treblinka in Text und Bild darstellten. Videos und Fototagebücher wurden gezeigt, sie stellten Janusz Korsczak vor – eine Pädagogen und Arzt, der 200 Kinder nach Treblinka begleitet hatte. Schließlich zeigten die Schüler*innen ein von ihnen gestaltetes Fotobuch und den Kurzfilm »Die Steine weinten«. Nachdem die Gruppen ihre persönlichen Eindrücke geschildert hatten, konnten sich die Zuhörer*innen noch mit ihnen austauschen und Fragen stellen.
Die Schülerinnen und Schüler boten eine eindrucksvolle Präsentation, es war deutlich zu spüren, dass sie sich inhaltlich und auch emotional sehr intensiv mit dem Holocaust und konkreten Geschichten befasst hatten.
Das Lernen am authentischen Ort sollte einerseits der historisch-politischen Bildung zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust dienen, um Ausmaß und Reichweite in Europa zu verstehen, andererseits aber auch die Vernetzung und den Austausch der »Ohne Rassismus – Mit Courage«-Titelschulen im Landkreis Stendal befördern. Nicht zuletzt war es ein Gruppenerlebnis zu einem besonderen, wichtigen Thema.
Mehr zur Gedenkstätte Treblinka:
Mehr über das Programm »Schule ohne Rassismus – Schule ohne Courage«:
Schüler*innen berichten über ihre Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz,
Lesung »Ich will Zeugnis ablegen« mit Renatus Deckert aus Victor Klemperers Tagebüchern
29. Januar 2020 / Markgraf-Albrecht-Gymnasium Osterburg
Theater-AG mit Performance, Vortrag über die Exkursion nach Auschwitz und Lesung mit Renatus Deckert (am)
Im Markgraf-Albrecht-Gymnasium in Osterburg berichteten Schüler*innen von ihrer fünftägigen Exkursion zur Gedenkstätte Auschwitz in Polen. Dieses größte Konzentrations- und Vernichtungslager ist zum Symbol der nationalsozialistischen Menschenverbrechen geworden. Die Zahl der dort systematisch und grausam Ermordeten wird auf bis zu 1,5 Millionen Menschen geschätzt. Die altmärkischen Schüler*innen, deren Gymnasium den Titel »Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage« trägt, stellten sich bei ihrem Besuch auch die Frage, wie wir heute mit diesen Verbrechen umgehen.
Die Gymnasiast*innen boten in der Aula ihrer Schule eine eindrucksvolle Präsentation, es war deutlich zu spüren, dass sie sich inhaltlich und emotional sehr intensiv mit dem Holocaust sowie konkreten Ereignissen und Geschichten befasst hatten. Das Programm begann mit einer Performance der Theater-AG, in deren Mittelpunkt die Akteur*innen einen Satz des Philosophen Theodor W. Adorno stellten: »Es ist barbarisch, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben.«
Lehrer Fabian Kröhnert, der mit auf der Fahrt gewesen war, leitete die dann folgenden Vorträge so ein: »Wir werden gleich Schülerinnen und Schüler erleben, die nach Worten ringen. Sie werden frei sprechen, die Texte sind nicht einstudiert.« (zitiert nach: Altmark-Zeitung, 30. Januar 2020). In gebannter Stille verfolgten die zuhörenden Schüler*innen dann die Berichte der Exkursionsgruppe, erfuhren von den beklemmenden Gefühlen beim Anblick der Schienen, die ins KZ führten, des Schriftzuges »Arbeit macht frei« wie auch der nachgebauten Krematorien. »Zu wissen, was dort passiert ist, ist sehr bedrückend. Man wollte da nicht reingehen«, gab eine Schülerin ihr Empfinden wieder. Die Fotos in der Ausstellung der Gedenkstätte Auschwitz hätten die Exkursionsteilnehmer*innen besonders beeindruckt, da sie die ermordeten Menschen in ihrem Leben und Alltag zeigten, bevor sie nach Auschwitz deportiert und dort vergast wurden.
In der Aula des Osterburger Gymnasiums las im Anschluss Dr. Renatus Decker unter dem Titel »Ich will Zeugnis ablegen« aus den Tagebüchern von Victor Klemperer. Erschreckend aktuell lesen sich diese von 1933 bis 1945 entstandenen Aufzeichnungen, in denen Klemperer beschreibt, wie er als protestantischer Konvertit jüdischer Herkunft die Ausgrenzungen aus der nationalsozialistischen Gesellschaft und den zunehmenden Antisemitismus erlebte. Die Erstveröffentlichung einer umfassenden Auswahl aus den Tagebüchern Victor Klemperers war ein Meilenstein für die Erforschung des nationalsozialistischen Alltags. Die Tagebücher sind zu einer wichtigen Quelle zur gesellschaftlichen Realität der NS-Zeit geworden. Die Schüler*innen verfolgten die Altagserzählungen mit höchster Aufmerksamkeit.
Mehr über die Gedenkstätte Auschwitz:
Mehr über das Programm »Schule ohne Rassismus – Schule ohne Courage«:
Fotonachweis: Die Fotos wurden von Volker Brahms (vb), Magdalena Burkhardt (mb), Mohannad Imbrahimkahilo (mi), Edda Gehrmann (eg), Gedenkstätte Isenschnibbe (gi), Kerstin Jana Kater (kk), Claudia Klupsch (ck), Aud Merkel (am) und Annika Path (ap) erstellt.